Lateinamerika: Ende der 'Rosa Welle' vorschnell prognostiziert

Dilma Rousseff.

[English at http://links.org.au/node/4184.]

Von Federico Fuentes; Übersetzung: Christian Klar

01.12.2014 – amerika21.de – Seit Anfang des Jahres haben zahlreiche Zeitungen vorhergesagt, dass sich ein Niedergang der sogenannten "Pink Tide" abzeichnet. Der Begriff "Pink Tide" wird verwendet, um die Welle von Regierungen links der Mitte in Lateinamerika zu bezeichnen, die in den vergangenen Jahren durch Wahlen an die Regierung kamen. Eine Reihe von ihnen waren bereits wiedergewählt worden und Meinungsforscher und Kommentatoren gleichermaßen erörterten, dass für viele nun ihre Zeit an der Regierung um sei.

Stattdessen sahen die Brasilianer am Sonntag, den 26. Oktober, Dilma Rousseff als wiedergewählte Präsidentin eine vierte Amtszeit in Folge für die Arbeiterpartei beginnen. Noch am selben Tag gaben die Wähler im benachbarten Uruguay der amtierenden Frente Amplio (FA) eine Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments, und FA-Kandidat Tabaré Vasquez geht als heißer Favorit in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen, nachdem er 49,5 Prozent der Stimmen in der ersten Runde gewann – im Vergleich zu 32 Prozent für seinen zweitstärksten Rivalen.

Diese Siege folgten direkt auf den kolossalen Erfolg von Evo Morales – seinem dritten in Folge – mit mehr als 60 Prozent der Stimmen in Boliviens nationalen Wahlen vom 12. Oktober. In der Tat schließen diese Wahlgänge einen Zeitraum von 16 Jahren kaum unterbrochener Siege von mitte-linken und linken Kräften in Südamerika ab, die mit der Wahl von Hugo Chávez im Dezember 1998 begannen.

Mehr noch, die "Pink Tide", die zunächst auf Länder südlich von Kolumbien beschränkt schien, ist geräuscharm auf Mittelamerika übergesprungen, mit den Siegen zu Beginn dieses Jahres von Kräften links von der Mitte in Costa Rica und El Salvador.

Welche Schlussfolgerungen können wir aus all dem ziehen?

Die erste ist, nie den Unternehmensmedien und ihren Meinungsforschern zu vertrauen. Ohne Zweifel zielten die Kampagnen von obskuren Umfragen und begleitenden Artikeln, welche die Wahlniederlagen vorhersagten, weitgehend auf eine Stärkung der Chancen von rechten Oppositionskandidaten, die für die Interessen der Wirtschaftseliten als günstiger erachtet wurden.

Die Medien kombinieren diese Geschichten damit, wie unter den gegenwärtigen Regierungsparteien sich alles, von der Wirtschaft bis zur Kriminalitätsrate verschlechtert habe, oder sich verschlechtern würde, kämen sie wieder an die Macht.

Die zweite Folgerung, die wir aufstellen können, ist dass, während die Konzernmedien fortfahren, viel Einfluss auszuüben, sie alles andere als unbezwingbar sind. Die meisten Menschen waren in der Lage zu sehen, dass es zwischen den negativen Geschichten, die die Medien ihnen erzählten und den Verbesserungen, die sie in ihrem Alltag erfuhren, eine große Kluft gab. Es überrascht nicht, dass sich das Misstrauen gegen die Konzernmedien tendenziell verstärkte, und Viele sich zu sozialen und gesellschaftlichen Medien wenden, um politische Informationen zu finden.

Als drittes Merkmal ist erwähnenswert, dass die Lateinamerikaner im Jahr 2015 ganz ander Menschen sind als die von 1998. Vorbei sind die Zeiten, als ein Unternehmenshintergrund oder Verbindungen zu Elitezirkeln als positive Eigenschaften für einen Kandidaten angesehen werden. Heutige Wähler sind nicht nur geneigter, die Idee zu akzeptieren, dass eine Frau, ein Gewerkschafter, eine indigene Person oder ein ehemaliger Guerillero Präsident werden kann. Sie indentifizieren sich positiv mit der aktuellen Art von politischen Führern, die als "einen von uns“ ansehen.

Und das ist nicht nur so, weil die Kandidaten anders aussehen. Sie sprechen auch eine andere Sprache, und vor allem, sie schlagen konkrete Alternativen vor, die sie abheben von der traditionellen politischen Klasse mit ihrem Beharren darauf, dass es keine Alternative zum freien neoliberalen Markt gäbe. Viele der traditionellen rechten Parteien haben dies noch nicht vollständig erfasst.

In Bolivien war der Hauptgegner von Evo Morales ein weißer Geschäftsmann, Samuel Doria Medina, Besitzer der örtlichen Konzessionen für Burger King und seinerzeit Minister in einer früheren neoliberalen Regierung. Wenig überraschend hat er nicht einmal die Hälfte der Anzahl der Stimmen wie Morales bekommen.

Auf der anderen Seite hat die Rechte am besten in den Ländern abgeschnitten, wo sie versucht hat, sich an diese neue Realität anzupassen, indem sie frische, junge Gesichter mit wenig sichtbaren Verbindungen zu den alten Eliten präsentierte. Der venezolanischen Oppositionskandidat Henrique Capriles ist dafür ein typisches Beispiel.

Die Dinge müssen sich in Venezuela grundlegend verändert haben, wenn sogar Kandidaten wie Capriles Wahlveranstaltungen in T-Shirts und Basecaps gekleidet und mit Slogans wie "Stimme für unten und links“ beiwohnen. Capriles ging so weit, zu behaupten, dass er derjenige sei, der das Vermächtnis von Hugo Chavez fortführe, obwohl er gegen ihn nur Monate, bevor er starb, nochmal angetreten war.

Die größte Herausforderung für die derzeitigen linken Regierungen besteht weitgehend in dieser neuen Rechten, die versucht, die Sprache und das Aussehen ihrer Gegner anzunehmen, was auch das Scheitern der "äußersten Linken" reflektiert, sich als eine ernsthafte Alternative zu etablieren. Wo dieser "Linke Flügel der Linken" gegen amtierende Regierungen angetreten ist, sind sie durchweg damit gescheitert, nennenswerte Unterstützung zu gewinnen.

Ihr Diskurs, der auf der Idee basiert, dass sich nichts geändert habe und dass die neuen Regierungen wie die alten seien, in Verbindung mit ihren Mangel an konkreten und greifbaren alternativen Politiken oder Programmen, hat sie wohl marginaler werden lassen als sie es vor fast zwei Jahrzehnten waren.

Kritiken führen dies auf die Fähigkeit der "Pink Tide"-Regierungen zurück, Protestbewegungen zu kooptieren und zu neutralisieren, und auf ihre Fähigkeit, eine oder mehrere Wahlperioden in der Regierung durchzustehen – etwas, das erst vor einem Jahrzehnt als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Allerdings ist diese Sicht viel zu vordergründig.

Die Realität ist, dass es in den meisten Ländern, die von "Pink Tide"-Regierungen regiert werden, heute weit mehr Proteste heute gibt als in den Jahren bis zu ihrer Wahl. Interessant ist, dass diese Proteste selbst ein Spiegelbild der Veränderungen sind, die in der Region stattgefunden haben.

Anders als die anti-neoliberalen Proteste der Vergangenheit stellen nur wenige eine direkte Herausforderung für das neue post-neoliberalen Modell dar, das – weit davon entfernt, mit dem Kapitalismus gebrochen zu haben – eine Verschiebung hin zu mehr Staatsintervention und mehr Umverteilung darstellt.

Stattdessen neigen die neuen Proteste dazu, sich um bestimmte Streitigkeiten über die Form des neuen Modells zu drehen. Das Aufkommen neuer Forderungen spiegelt dabei auch wichtige demografische Verschiebungen wieder, die infolge dieser Änderungen in der Wirtschaftspolitik eingetreten sind.

Dies schließt zum Beispiel den Aufstieg der "neuen Mittelklasse" ein, Millionen, die aus der Armut befreit wurden. Heute heben ihre Forderungen in der Regel weniger auf den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen ab und mehr auf die Suche nach Verbesserungen bei diesen Dienstleistungen, die die gewachsene Zahl von Nutzern nicht bewältigen können.

Dann gibt es das "neue Proletariat", das junge Menschen umfasst, die vom besseren Zugang zu Bildung profitiert haben, aber aufgrund der vom Neoliberalismus hinterlassenen sehr prekären Arbeitsbedingungen nicht in der Lage sind, bessere Einkommen zu erzielen als ihre Eltern.

Das Leben von Millionen Menschen wurde von den wichtigen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen betroffen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Zur gleichen Zeit sind sie weiterhin mit Einschränkungen durch die anhaltende Schatten des Neoliberalismus und mit Defiziten oder Schwächen der bestehenden Regierungen konfrontiert. Die Bewältigung dieser Herausforderungen wird die aktive Beteiligung und Mobilisierung der Unterklassen erfordern, die ursprünglich die "Pink Tide"-Regierungen an die Macht gebracht haben.

Die Nutzung der Energien aus den aktuellen Protestwellen wird von entscheidender Bedeutung sein, nicht nur um die Rechte im Zaum zu halten, sondern auch um einen Prozess voranzubringen, der noch immer stark darüber definiert ist, wie er sich vom Neoliberalismus unterscheidet, hin zum Aufbau einer anderen und besseren Welt.