Klassenapartheid: Die Wirtschaftspolitik der Mandela-Ära war geprägt von Zugeständnissen an das »big business«

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Von Patrick Bond

Analyse & Kritik – Die Welt trauert um Nelson Mandela, der am 5. Dezember 2013 im Alter von 95 Jahren starb. Wie hat Mandela Südafrika verändert? Und wie viel politischen Spielraum hatte er dabei überhaupt? Südafrika taumelt heute von Krise zu Krise, weshalb sich viele nach Mandelas Regierungszeit zurücksehnen. Diese habe sich grundsätzlich unterschieden vom jetzigen kumpel-kapitalistischen, durch und durch korrupten, auf einer brutalen Sicherheitspolitik beruhenden Regime – so lautet der Tenor. Doch vielleicht wurde die Saat des heutigen politischen Übels schon früher gesät?

Das kritische Jahrzehnt waren die 1990er Jahre, in denen Mandela auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Im Februar 1990 war er aus dem Gefängnis entlassen worden, im Mai 1994 wurde er Präsident, und im Juni 1999 schied er aus dem Amt aus. Dem früheren Chef des Geheimdiensts, Ronnie Kasrils, zufolge waren es genau jene Jahre, in denen »der Kampf um die Seele des African National Congress verloren wurde« und wirtschaftliche Interessen dort die Oberhand gewannen.

Mandelas Präsidentschaft war geprägt von extrem wachsender sozialer Ungleichheit, sinkender Lebenserwartung, steigender Arbeitslosigkeit, höherer Verletzlichkeit gegenüber weltwirtschaftlichen Schwankungen und zunehmenden ökologischen Problemen. Wie sehr trifft Mandela die Schuld daran? Wurde er dorthin getrieben oder wählte er selbst diesen Weg?

Klassische Elemente der Strukturanpassung

Auch wenn mit dem Einzug der Demokratie 1994 der formelle Rassismus beseitigt wurde und die Rhetorik der Menschenrechte Einzug hielt, herrschte in Südafrika eine »Demokratie niedriger Intensität«. Denn die selbst auferlegte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik – auf Geheiß der Finanzmärkte und der internationalen Institutionen – erforderte die Abkehr von nationalen Interessen – kurz: einen von den Eliten getragenen Übergang.

Im Fall von Südafrika geht die Entscheidung, den eigenen politischen Spielraum zu reduzieren, tatsächlich genauso auf das Konto lokaler Eliten wie auf das der Bretton-Woods-Institutionen und anderer Finanzinvestoren. In den Jahren 1994 bis 1999 setzten sie so den neoliberalen Schwenk des späten Apartheid-Regimes fort und verstärkten diesen im Kontext der zunehmenden Welthegemonie des Neoliberalismus.

Im Grunde hatte der ANC seinerzeit zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Entweder die breite Bevölkerung zu mobilisieren, staatliche Investitionen und das Steueraufkommen zu erhöhen und den Kapitalabfluss ins Ausland zu stoppen, inklusive der Rückzahlung illegitimer Schulden aus der Apartheid-Ära. Oder – wofür sich der ANC letztlich entschied – dem neoliberalen Pfad zu folgen und lediglich hier und da kleine Reformen umzusetzen, um oberflächlich die Forderung nach einer »nationalen demokratischen Reform« zu erfüllen.

Der neoliberale Pfad wurde bereits in den Übergangsjahren (1990-1994) vorgezeichnet. U.a. geschah dies durch »Szenarioplanungen« von Konzernen wie Shell, Anglo American und Nedbank mit dem aufstrebenden ANC. Eine andere treibende Kraft war die Weltbank. Zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) trug sie Anfang der 1990er dazu bei, die politischen Rahmenbedingungen für eine marktfreundliche Post-Apartheid-Regierung zu schaffen – u.a. durch die Förderung einer »marktorientierten« Landreform, mit der lediglich ein Prozent der guten Flächen umverteilt wurde, durch die Befürwortung einer bankzentrierten Wohnungspolitik und durch den Einsatz für niedrigere Löhne und mehr »Arbeitsflexibilität«.

Die wichtigste Verschmelzung zwischen dem Alten und dem Neuen im wirtschaftlichen Bereich erfolgte jedoch, als das »Übergangsexekutivkomitee« (TEC) fünf Monate vor der Wahl vom 27. April 1994 die Kontrolle über die südafrikanische Regierung übernahm. Dem TEC gehörten einige führende ANC-Kader sowie Mitglieder der noch regierenden Nationalen Partei (NP) an. Am 1. Dezember 1993 akzeptierte das TEC einen IWF-Kredit über 850 Millionen US-Dollar, der angeblich für Dürrehilfe gedacht war, obwohl die letzte schwere Dürre bereits seit 18 Monaten vorüber war. Die geheimen Kreditbestimmungen – die die Zeitung Business Day im März 1994 publik machte – enthielten die üblichen Elemente des klassischen Strukturanpassungsmenüs: niedrigere Importzölle, Einsparungen bei den Staatsausgaben, Einschnitte im öffentlichen Sektor.

Arbeitslosigkeit und Polarisierung

Um 1996 war die neoliberale Wirtschaftspolitik bereits fest verankert und der von den Eliten geprägte Übergang zementiert. Der ANC erhielt weiter zwischen 60 und 67 Prozent der Stimmen, und Mandela wurde dafür verehrt, dass er das »Wunder« vollbracht hatte, politische Lösungen für die oberflächlichen Probleme der Apartheid gefunden zu haben. Von unten betrachtet wurde jedoch unter Mandela die rassistisch begründete Apartheid durch eine »Klassenapartheid« ersetzt. Damit einher ging eine Deradikalisierung des ANC.

Zusätzlich zu den Deals der Jahre 1990 bis 1994 wurden dem neuen Südafrika verschiedene andere internationale Wirtschaftsbeschränkungen auferlegt. So trat das Land ein paar Wochen nach der Befreiung im Mai 1994 zu ungünstigen Bedingungen dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) bei: Die US-Regierung unter Bill Clinton hatte darauf bestanden, dass Südafrika dort als Schwellen- und nicht als Entwicklungsland eingestuft wurde – damit war die Deindustrialisierung der südafrikanischen Wirtschaft besiegelt.

Eine der wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen der Post-Apartheid-Zeit wurde im Juni 1996 gefällt, als die obersten EntscheidungsträgerInnen im ANC eine neue makroökonomische Strategie einführten, ohne ihre Partner in der Gewerkschaftsbewegung und der Kommunistischen Partei (SACP) zu konsultieren, geschweige denn ihre WählerInnen. Auch zwei Weltbankökonomen waren an dieser Übung beteiligt, die bekannt wurde als GEAR-Programm (»Growth, Employment and Redistribution« – Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung). (1)

Von allen darin enthaltenen Zielen wurden in den Jahren 1996 bis 2000 lediglich diejenigen erreicht, die für den »big business« von Bedeutung waren: eine Reduktion der Inflation, ein Ausgleich der Leistungsbilanz sowie eine Senkung des Haushaltsdefizits. Um die eigentlichen Hauptziele blieb es dagegen schlecht bestellt: Pro Kopf berechnet, fiel das BIP-Wachstum negativ aus. Die Beschäftigungsrate ging Ende der 1990er um ein bis vier Prozent pro Jahr zurück, anstatt um die versprochenen drei bis vier Prozent zu wachsen. Zwischen 1995 und 2002 stieg die offizielle Arbeitslosenrate von 16 auf 30 Prozent. Und von der angekündigten Umverteilung profitierten letztlich vor allem Unternehmen, da mehrere Finanzminister in Folge die Unternehmenssteuern drastisch senkten – von 48 Prozent im Jahr 1994 auf 30 Prozent im Jahr 1999. Das durchschnittliche Einkommen schwarzer Haushalte fiel dagegen zwischen 1995 und 2000 um 19 Prozent, während das Einkommen weißer Haushalte um 15 Prozent anstieg. Das Akronym GEAR sollte also besser umbenannt werden in Rückgang, Arbeitslosigkeit und Polarisierung.

Hier wird das zentrale Zugeständnis offensichtlich, das der ANC während der Übergangsjahre machte: Er fügte sich dem Wunsch der weißen Geschäftszweige, der wirtschaftlichen Stagnation und den sinkenden Profiten zu entkommen, die aus einer klassischen Überakkumulationskrise entstanden waren. Kurz gesagt wollte der »big business« aus Südafrika fliehen und Mandela stimmte im Austausch für die Machtübernahme dieser extremen Kapitalflucht zu. Als Folge davon gehört Südafrika heute zu den Ländern, die das höchste Leistungsbilanzdefizit aufweisen.

Überwindung des Apartheid-Kapitalismus

Anstatt widrige Machtverhältnisse auf globaler, regionaler oder lokaler Ebene zu bekämpfen, legitimierte die Mandela-Regierung in der Regel den Status quo. Allerdings gab es von Anfang an auch Widerstand gegen diese ungerechte Entwicklung: Gewerkschaften, Community-Organisationen, Frauen- und Jugendgruppen, NGOs, fortschrittliche Kirchen und unabhängige Linke protestierten gegen die kapitalistisch-neoliberale Konsolidierung in der Post-Apartheid-Ära.

Sie kritisierten Entscheidungen wie Steuerbegünstigungen für große Firmen und Reiche, Rückzahlungen von Auslandsschulden aus der Apartheid-Zeit oder die mangelnde Regulierung der Finanzinstitutionen. Darüber hinaus gab es Kampagnen in den Bereichen Landreform, Wasser- und Energieversorgung, Wohnungsbau, Bildung, Umwelt, Gesundheits- und Transportwesen etc. Der Staat ging bald zu einer systematischen Demobilisierung dieser zivilgesellschaftlichen Gruppen über, die eine so zentrale Rolle beim Sturz der Apartheid gespielt hatten.

Eine Lösung für die Probleme, die Mandela hinterlassen hat, wird es erst geben, wenn eine demokratische Gesellschaft eine Partei wählt, die das Erbe dieses Apartheid-Kapitalismus zu überwinden vermag. Dies wird vermutlich frühestens 2019 möglich sein, nach sechs weiteren Jahren der Zerstörung unter Jacob Zuma und nachdem der ANC vollends zerfallen ist. Die Ziele einer solchen Partei hat niemand besser formuliert als Mandela selbst, als er im Januar 1990 schrieb: »Der ANC strebt die Verstaatlichung der Minen, Banken und Monopolindustrien an. Wir unterstützen das Ziel der schwarzen ökonomischen Ermächtigung, doch in unserer Situation ist die staatliche Kontrolle bestimmter Wirtschaftssektoren unerlässlich.«

Angesichts des Erbes der 1990er ist es schwerer geworden, dieses Ziel zu erreichen. Doch ironischerweise wird die Erinnerung an Mandela viele inspirieren, die an der Überwindung der Gesellschaft arbeiten, die er uns hinterlassen hat. Angesichts der Probleme, die seine Bündnisse mit dem Teufel mit sich brachten, werden sie sich fragen, ob er dorthin getrieben wurde oder ob er diesen Weg selbst gewählt hat. Vielleicht trifft beides zu.

[Patrick Bond ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität von KwaZulu-Natal in Durban. Der Artikel beruht auf Auszügen aus einer deutlich längeren Analyse, die am 5.12.2013 erschienen ist bei »Links International Journal of Socialist Renewal« (http://links.org.au). Übersetzung und Bearbeitung: Sarah Lempp.]

Anmerkung:

1) Das Programm zielte u.a. auf die Aufhebung von Beschränkungen für ausländische Direkt­investitionen, förderte die Privatisierung von Staatsbesitz und eine stärkere Exportorientierung und strebte eine stärkere Integration in die Weltwirtschaft an. Als Folge wurde ein Wachstum von drei bis sechs Prozent sowie die Schaffung von 400.000 Jobs prognostiziert.