Mehr als 'Pragmatiker kontra Radikale'

[In English at http://links.org.au/node/3968.]

Von Federico Fuentes, Übersetzung Christian Klar

August 4, 2014 – Portal Amerika21.de – Die Veröffentlichung eines gegenüber der Regierung des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro höchst kritischen Dokuments, verfasst von einem der dienstältesten Minister in der Regierung des früheren Präsidenten Hugo Chávez, hat eine beispiellose Debatte unter den venezolanischen Revolutionären ausgelöst.

Jorge Giordani ließ die Bombe am 18. Juni platzen - einen Tag, nachdem er als Planungsminister ersetzt wurde. Dem ging seine Entlassung aus dem Vorstand der venezolanischen Zentralbank und aus der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA voraus. Er hatte den Posten fast ununterbrochen inne, seit Chávez erstmals 1999 an die Macht kam.

Viele sahen Giordani als Hauptarchitekten der Wirtschaftspolitik der Chávez-Regierung und als Vertreter einer orthodoxen marxistischen Linie im Kabinett. Seine Absetzung ist als Beweis für eine Vergrößerung der Kluft zwischen "Pragmatikern" und "Radikalen" in der Regierung dargestellt worden.

Giordanis Zeugnis

In dem Dokument mit dem Titel "Zeugnis und Verantwortung vor der Geschichte" hebt Giordani hervor, was er als die drei wichtigsten Errungenschaften der bolivarischen Revolution ansieht.

Dies sind die dramatischen Senkung der Armut; der Abbau der zuvor herrschenden Machtverhältnisse, die es dem in- und ausländischem Kapital erlaubten, den Staat zu kontrollieren, insbesondere die staatliche Ölgesellschaft PDVSA; und drittens die Schaffung eines öffentlichen Sektors, der jetzt die wirtschaftlichen Schlüsselbereiche dominiert.

Aber Giordani sagt, dass diese Errungenschaften aufgrund eines "neu eingeschlagenen Weges" nach dem Tod von Chávez im vergangenen Jahr in Gefahr sind.

In Kombination mit den Auswirkungen einer rechten Offensive und einem Präsidenten, "dem es an Fähigkeit mangelt, das Projekt zu führen", habe dies zu "ein Machtvakuum in der Präsidentschaft" geführt, so Giordani.

Er sagte weiter, dies führte zu "einer Konzentration in anderen Zentren der Macht und zerstörte dabei die Arbeit von Institutionen wie dem Finanzministerium und der Zentralbank, und vollendete die Unabhängigkeit der PDVSA von der Regierung."

Kapitalistische Interessensgruppen hätten die Maduro-Regierung "auf den Weg der Wiederherstellung kapitalistischer Finanzmechanismen" gedrängt, "welche die Versuche erleichtern, den Ölreichtum zurückerobern", so Giordani.

Dies bezieht sich auf die Bemühungen der Regierung Maduro, nach und nach die strikten Devisenkontrollen, von denen Giordani ein starker Befürworter war, durch mehr marktorientierte Mechanismen zu ersetzen.

Nur wenige haben eine vollständige Unterstützung für Giordanis Aussagen bekundet, aber zumindest zwei ehemalige Minister und bedeutende Führer der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) sowie die Kommunistische Partei Venezuelas haben gesagt, das Dokument werfe wichtige Fragen auf, die diskutiert werden müssen.

Links gegen rechts?

Es überrascht nicht, dass die schärfsten Kritiker des Chavismus Giordanis Brief einen Zwist unter Räubern genannt haben. Auf der Rechten schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles, dass der Brief einfach "das Niveau der Korruption, die in der Regierung vorhanden ist, bestätigt".

Er sagte, der Umgang der Regierung mit der Wirtschaft werde nicht von den Bedürfnissen des Volkes, sondern von "persönlichen Interessen und den Interessen einer politischen Partei" diktiert.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums schrieb der ehemalige Vize-Minister unter Chávez und linke Dissident Roland Denis, der Giordani Brief bezeuge, dass er Teil "einer Führung im Konflikt mit sich selbst ist."

"Ohne Zweifel", sagte Denis, "ist unser Freund ein typisches Beispiel für den moralischen und politischen Bankrott einer Staatsführung, die sehr wohl von dem Klüngel weiß, der in ihr herrscht, aber nicht die volle Verantwortung übernehmen will ... er versucht als eine Person zu erscheinen, die als letzte in Korruption verwickelt ist, auch wenn er sie geschehen lässt."

Die meisten Kommentatoren haben jedoch Giordanis Rausschmiss als den letzten Schritt in einem fortschreitenden pragmatischen Schwenk der Regierung Maduro angesehen.

Francisco Rodriguez, ein ehemaliger Leiter des Amtes für Wirtschafts- und Finanzberatung der venezolanischen Nationalversammlung, schrieb weniger als eine Woche bevor Giordani als Minister entfernt wurde eine Analyse für die Bank of America.

Darin beschrieb er Giordanis Abberufung von der Zentralbank und der PDVSA-Leitung als ein "starkes Zeichen des abnehmenden Einflusses des radikalen marxistischen Flügels in Fragen der Wirtschaftspolitik".

Zusammen damit, dass die Regierung sich in Richtung Aufweichung der Währungs- und Preiskontrollen bewege, meinte Rodriguez, es sei "eine starke Konsolidierung der Pragmatiker bei der Kontrolle von wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen".

Die Ansicht, dass Maduro die Regierung nach und nach in eine gemäßigte Richtung gesteuert hat, wurde auch von einigen linken Sektoren innerhalb des Chavismus geäußert. Ein Beispiel ist Marea Socialista, eine kleine Strömung innerhalb der PSUV.

Im Februar hieß es vonseiten Marea Socialista, Maduros Zustimmung zum Dialog mit der Geschäftswelt sowie die Entscheidung der Regierung, den privaten Unternehmen leichteren Zugang zu US-Dollars zu gewähren - aber auf der Höhe des offiziellen festen Wechselkurses - habe ein bedeutendes Zugeständniss verkörpert.

Was diesem Argument scheinbar mehr Gewicht gab, war das Erscheinen eines Artikels (weniger als zwei Wochen vor der Entlassung Giordanis) von Temir Porras, der Vize-Minister unter Maduro gewesen ist, als dieser Außenminister war. Porras wurde auch von Maduro ausersehen, den nationalen Entwicklungsfonds FONDEN und die nationale Entwicklungsbank BANDES zu leiten.

Er hielt sich nicht lange in diesen Positionen und wurde nach Konflikten mit einigen von Giordanis Verbündeten innerhalb dieser Institutionen aus ihr entfernt.

Porras schrieb, dass eine "Änderung des strategischen Weges" so schnell wie möglich nötig sei, wenn die Revolution ihre Erfolge nicht verlieren solle. Im Bereich der Wirtschaft forderte er mehr "Pragmatismus".

Nicht alle sind jedoch davon überzeugt, dass Giordanis Sturz ein Zeichen für einen Kampf zwischen Pragmatikern und Radikalen ist, noch, dass Maduro auf einen grundlegend anderen Weg als dem von Chávez angelegten aus ist.

Neftali Reyes, die regelmäßig für die pro-revolutionäre Webseite Aporrea schreibt, stellt fest, dass viele der Bedenken, die Giordani aufwirft, bis zu Chávez' Präsidentschaft zurückverfolgt werden können.

Reyes weist darauf hin, dass Chávez ebenfalls Treffen mit der Geschäftswelt einberief und Mechanismen initiierte, um in regelmäßigen Abständen den Fluss von Dollar in den Privatsektor zu erleichtern.

Auch die Tatsache, dass Rafael Ramírez als Vizepräsident für die Wirtschaft und den PDVSA-Vorsitz (ein Posten, den er für eine Dekade gehalten hat) bestätigt wurde, ist ein Zeichen der Kontinuität im Wirtschaftsteam der Regierung. Ramírez hat auch eine lange Geschichte der Einbindung in marxistische Gruppen.

Victor Álvarez, ein Ex-Minister für Grundstoffindustrie, schrieb, dass das Ausscheiden Giordanis allenfalls die Beschleunigung des bereits im Gang befindlichen Abbaus des aktuellen Wechselkursregimes anzeigte.

Dieses Regime, sagte Álvarez, hat wesentlich zu den wirtschaftlichen Problemen des Landes beigetragen, indem es Importeure mit überbewerteten Bolívar begünstigte, die lokalen Produzenten bestrafte, Knappheit anregte und die Inflation anheizte. Auf diese Weise sei, meinte er, erheblich zu den wirtschaftlichen Problemen des Landes beigetragen und "der Hauptanreiz für Korruption und Spekulation" geschaffen worden.

Dieser Prozess, der bisher zur Schaffung eines offiziell dreistufigen Wechselkurssystems führte, wurde unter Giordani begonnen.

Das Gros des für 80 Prozent des Außenhandels in Venezuela eingesetzten Systems wird weiterhin auf 6,30 Bolivar festgelegt sein. Es wird vom staatlichen Nationalen Zentrum für Außenwirtschaft verwaltet, das Dollars für Unternehmen, die Grundgüter importieren, bereithält.

Die zweite Stufe, SICAD I (die Giordani in seinem Brief als ursprünglich seinen Vorschlag bestätigt), trat im vergangenen Jahr im Juli in Kraft.

Im Rahmen dieses Mechanismus werden die Unternehmen, die in bestimmten Branchen tätig sind, zu einer wöchentlichen Auktion für den Zugang zu 220 Millionen US-Dollar eingeladen - zu einer Rate, die zwischen zehn und zwölf Bolívar liegt.

Im März kündigte die Regierung mit der Schaffung von SICAD II eine dritte Stufe an. Dieser Mechanismus erlaubt der PDVSA, der Zentralbank, Banken und privaten Einrichtungen zu einem freien Wechselkurs Dollars zu kaufen und zu verkaufen. Die Zentralbank behält sich allerdings das Recht zu intervenieren vor.

SICAD II operierte mit einer Rate, die um 50 Bolívar lag.

Schließlich gibt es den "Schwarzmarkt"-Kurs, die ich in den letzten Monaten um 60 bis 70 Bolivar schwankte. Er arbeitet im wesentlichen als inoffizielle vierte Stufe.

Populäre Kontrolle

Álvarez sagte, jede wirkliche Änderung in der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik würde die Vereinheitlichung der bestehenden Kurse innerhalb eines begrenzten, frei schwebenden Systems erfordern.

Ramírez sagt, das ist genau das, worauf die Regierung hinarbeitet.

Diejenigen, die behaupten, dass eine Abkehr von den strikten Devisenkontrollen ein Schritt in Richtung Pragmatismus ist, erklären in der Regel nicht, was das Eine mit dem Anderen zu tun hat.

In Bezug auf die Debatte über Venezuelas Devisenkontrollen und Wirtschaftspolitik schreibt Mark Weisbrot, ein US-Ökonom, den Chávez bei vielen Gelegenheiten nach Venezuela einlud: "Die Mehrheit der Medien neigt dazu, Veränderungen in der Politik - vor allem in einem Land wie Venezuela, das Wirtschaftsmedien so wenig mögen - durch ein binäres Prisma zu sehen. Änderungen sind entweder 'Pro-Markt' oder favorisieren größere 'staatliche Kontrolle'".

"Viele aufseiten der Linken haben eine ähnliche Meinung, aber mit einer entgegengesetzten Präferenz: Der Markt ist schlecht, während staatlicher Einfluss gut ist."

Doch, wie Weisbrot bemerkt, haben neoliberale Ökonomen und der Internationale Währungsfonds feste Wechselkurse in bestimmten Situationen unterstützt.

Darüber hinaus haben Devisenkontrollen zu gewissen Zeiten Instabilität erzeugt und zu Spekulation, Korruption, Kapitalflucht und das Aufkommen eines Schwarzmarktes beigetragen.

Nur wenige bezweifeln, dass das in Venezuela bestehende System der Währungskontrollen die Wirtschaft deformiert hat. Giordani selbst prangerte die Existenz von Scheinfirmen an, die im Jahr 2012 illegal etwa 20 Milliarden Doller über staatlich regulierte Kanäle requiriert haben. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Kontrollen als praktikabler Mechanismus zum Steuern des Dollarflusses versagen.

Doch das einfache Entfernen der Kontrollen könnte am Ende die Situation noch weiter erschweren. Bis jetzt hat die Regierung versucht, den Währungswechsel zu kontrollieren, hatte aber wenig darüber zu sagen, was danach passiert. Um diese Situation zu ändern, hat der venezolanische Ökonom Manuel Sutherland unter anderem vorgeschlagen, den gesamten venezolanischen internationalen Handel zu verstaatlichen.

Er stellt fest, dass Chávez vor drei Jahren erstmals vorschlug: "Schafft eine staatliche Körperschaft für Importe und Exporte, um die Hegemonie der Bourgeoisie über die Einfuhr zu beenden. Wir sehen aus wie pendejos (Trottel), wenn wir Dollars an die Bourgeoisie vergeben. Sie importieren, überteuern, kaufen, was immer gewünscht wird für einen Dollar, und erzielen hier fünf Dollar..."

Zunehmende staatliche Kontrolle müsste auch Hand in Hand mit der Intensivierung des Kampfes gegen die Korruption gehen. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, gegen die vorzugehen, die für die 20 Milliarden US-Dollar verantwortlich sind, die laut Giordani 2012 gestohlen wurden. Größere staatliche Kontrolle müsste auch mit mehr Beteiligung der Bevölkerung einhergehen.

Zum Beispiel wird jeder Schritt, um die bestehenden Wechselkurse zu vereinheitlichen, einen Wechselkurs irgendwo zwischen der aktuellen festen Rate und der des Schwarzmarktes etablieren. Private Unternehmen würden dies zweifellos nutzen, um weitere Preiserhöhungen zu rechtfertigen und behaupten, sie wären der offiziellen Abwertung zuzuschreiben.

Doch es hat sich immer und immer wieder gezeigt, dass die meisten privaten Unternehmen das System nutzten, indem sie Waren zum niedrigeren Kurs importierten und sie verkauften, als ob sie zum Schwarzmarktwechselkurs gekauft worden seien.

Der beste Weg, um dies zu stoppen wäre, den Arbeitern und Gemeinden die Kontrolle darüber zu übergeben, wie die Privatwirtschaft ihre Preise festsetzt.

Ebenso könnte eine größere Arbeiterbeteiligung die Produktion stimulieren und klären helfen, ob der Mangel an Importwaren am Mangel an Dollars oder an korrupten Praktiken (von Unternehmern, Staatsbeamten oder beidem) liegt.

Gesetzliche Grundlagen für ein solches Verfahren gibt es bereits, sie sind aber noch nicht vollständig umgesetzt.

Dies sind weitere Beispiele dafür, warum mehr Volksmacht in der Produktion und bei der Verteilung lebenswichtig ist, um sicherzustellen, dass eine Lockerung der Kontrolle über den Wechselkurs nicht zu einem Verlust der Kontrolle über die Zukunft des Ölreichtums des Landes führt.

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